“Fuck”. Das sei kein guter Einstieg für ein Buch, aber genau das war es was sie am Morgen des 24. Februar 2022 dachte als sie ihr Handy öffnete und deswegen passt es. Der Tag an dem Russland die Ukraine überfällt ist für Marlene Knobloch eine Zäsur, das wirkt erstmal profan. Für sie ist aber nicht allein die Zeitenwende das einschneidende Erlebnis, sondern “das Gefühl etwas Grundlegendes über das Leben nicht verstanden zu haben.”
Marlene Knobloch ringt in ihrem Essay mit sich selbst und den Themen, die wahrscheinlich die meisten der 20 bis 30-Jährigen heutzutage beschäftigt und nimmt den Leser mit auf ihre eigene Gedankenreise, in der sie ALLES hinterfragt. Aufgewachsen in einer Zeit, die im Rückblick scheinbar problemlos vonstattenging, findet sich die Generation der “Millennials” und der “Gen-Z” heute in einer Gegenwart und Zukunft wieder, die an Problemen nicht gerade geizt. Demographischer Wandel, Klimakrise, Ukrainekrieg, Zunahme autokratischer und demokratiefeindlicher Strukturen, um nur die Wesentlichsten Beispiele zu nennen. Knobloch beschäftigt sich mit dem Gefühl auf eine Welt vorbereitet worden zu sein, die es heute nicht mehr gibt und der ernüchternden Erkenntnis, dass sie aufgrund ihrer ausgeprägten “Vorkrisen-Weltansicht” die Anzeichen der heutigen “multiplen Krisen” mit 20 nicht erkannt hat, getreu dem Motto “Ach, das wird schon wieder”.
Sie begibt sich auf den Grund ihres eigenen Weltverständnisses und muss feststellen, dass sich die meisten Debatten der jüngeren (deutschen) Generation nicht um die wesentlichsten Dinge des Lebens gedreht haben: Gesellschaftliche Kontroversen um moralistische und kulturalistische Themen, die dieses Maß an Aufmerksamkeit nicht verdienten, standen im Vordergrund. Spielen wir “Layla” auf dem Oktoberfest oder nicht? Die Grautöne gingen verloren, man hatte sich die falschen Feinde gesucht. Gekämpft wird heutzutage vor allem im Internet, auf Twitter, gegeneinander. Denn diese Generation hatte keine “wahrhaftigen Feinde” und musste nie befürchten mit der geballten Brutalität der Welt, dem “Serious Shit”, konfrontiert zu werden.
Man debattierte sich an klapprigen Stehtischen in Studenten-WGs fest und schlitterte in diesem warm-wohligen Gefühl der Sicherheit Stück für Stück in den Geschichts-Revisionismus. Krisen, in meinem Leben, “NE!” Und plötzlich lebt man wieder in “interessanten Zeiten”. Zeiten, die gefährlich sind, von denen man sich wünscht sie würden schnell aufhören, Zeiten in denen Ältere Menschen lieber nicht wieder jung sein wollen. Im Februar 2022 wird auf einen Schlag klar, was sich im vergangenen Jahrzehnt schon andeutete, aber viele nicht sehen wollten oder konnten. Die Zukunft wird verdammt schwierig.
Das Buch handelt nicht nur von Putin, aber auch. Sie nutzt die Zäsur des Angriffskriegs geschickt als Zugang, um den Spiegel auf die jetzige Gesellschaftssituation zu richten. Sie greift Beispiele exemplarisch heraus, überspitzt sie um ihren Standpunkt klarzumachen und schließt letztlich von diesen Fällen auf das Große Ganze. Das ist grundsätzlich fragwürdig, man teilt auch nicht alle ihre Ansichten, aber es funktioniert, denn es umkreist ihre große Fragestellung. Wo wollen wir mit unserer Gesellschaft, unserem Europa, unserer Welt in den nächsten 50 Jahren sein?
Es ist ein ernstes Buch, das den Kern von vielem trifft worüber man sich im Alltag so Gedanken machen könnte, aber Knobloch vertritt keine hoffnungslose Perspektive – aus “Einzelbiografen” müsse wieder ein kollektives Bestreben und Gedächtnis werden, damit in der Zukunft eine Gesellschaft entstehen könne die wieder eine gemeinsame langfristige Perspektive entwickle und die lähmende Kurzsichtigkeit des Einzelnen ablege. Egal in welchem Bereich, ob geo- oder klimapolitisch, die Gesellschaft muss zurück zum Diskurs, die Menschen müssen sich einander wieder sehen und akzeptieren, zusammenarbeiten.
Ich selbst finde mich in vielen von Marlene Knoblochs Gedanken wieder und finde ihre Ansätze ermutigend. Zum Schluss sitzt Knobloch in ihrem bayerischen Heimatdorf, dort, wo Diskurs noch produktiv gelebt, die Gesellschaft abgebildet wird. Der Kneipe um die Ecke. Dort spricht man noch auf Augenhöhe miteinander und respektiert sich, so muss die Gesellschaft in den nächsten Jahren funktionieren, können Gräben zugeschüttet werden. Der Gedanke gefällt mir – Leseempfehlung!
Buch beendet am: 21.05.2023
Seiten: 112
Genre: Praxisorientiertes Fachbuch