Benjamin von Stuckrad-Barres Werke werden oft als “auf dem Zahn der Zeit” gewertet. Tommi Schmitt hat mal gesagt: “Wenn Stucki ein Buch rausbringt, das ist dann wie WM-Jahr”. Laut der FAZ “sieht Benjamin von Stuckrad-Barre, was wir alle sehen. Er hat bloß schon immer genauer hingeschaut.” Alles irgendwie richtig.
Es ist etwas Anlaufzeit vonnöten, um sich an den verschachtelten Schreibstil zu gewöhnen. Nicht selten kommt es vor, dass ein Satz eine halbe Seite füllt, doch seiner fiktionalen Geschichte schadet das nicht, im Gegenteil. Ebenfalls AUFFÄLLIG ist die Großschreibung einzelner SCHLÜSSELWÖRTER. die er so gekonnt in den Vordergrund stellt. Oft sind es genau die aussagekräftigen und wichtigen Wörter die so markiert werden, manchmal nicht. Es passt zum Buch. Stuckrad-Barre kann in den Bann ziehen durch die Welt die er entwirft und wie er sie sprachlich umschreibt. Dieser Bann drückt sich eben öfter mal in Aneinanderreihungen von Eindrücken aus.
Zeitlich beginnt die Erzählung wohl im Jahr 2017, eine genaue Zeitangabe wird nicht gemacht, es lässt sich nur anhand der realen Ereignisse einschätzen auf die das Buch Bezug nimmt. Das erste Kapitel trägt den Namen “Dann müssen sich die Frauen auch nicht wundern”, die Benennung ist kein Zufall, sie beschreibt die Handlung des Buchs. Es geht um eingesessene Machtstrukturen und Machtmissbrauch von Männern in höchsten Führungspositionen, um Mut und Courage sowie die menschlichen Abgründe, nicht zuletzt auch um die Auswüchse eines außer Kontrolle geratenen Boulevard-Journalismus und was das alles mit einer Gesellschaft macht.
Wir erleben die Geschichte aus der Sicht der circa 40-50 Jahre alten Hauptfigur. Sie ist recht identitätslos, Angaben über Name, Alter, Geschlecht, Vita etc. fehlen lange Zeit. Einzig der Job als freier Kunstschaffender und Schriftsteller ist von vornherein bekannt – ich empfand es beim Lesen als einen einfallsreichen Trick, wird es ohne personelle Angaben zum Erzähler doch umso einfacher in die Geschichte einzutauchen und selbst an seine Stelle zu treten. Die Ich-Identifikation gelingt viel schneller und fördert zudem die Freude am Lesen.
Die Handlung pendelt zwischen dem berühmten Chateau Marmont Hotel in West Hollywood, Los Angeles und Berlin hin und her. Die Sommermonate verbringt der Erzähler in Berlin und sind die letzten Sonnenstrahlen fort, der “depressive Berliner Winter” vor der Tür, dann geht der Flieger “Back To Cali”. Dort begegnet dem Leser eine High-Society-Gesellschaft, die vor allem vor der Realität flieht. In diesem Sommer kommt die Realität den Bewohnern gefährlich nahe. Eine Bekannte des Erzählers – (wahre) Freundschaft existiert im aristokratischen Chateau Marmont nicht – berichtet von nächtlichen Nachrichten ihres Chefredakteurs frei dem Motto “Noch Wach?”, sie ist abgeneigt und in der Klemme. Einerseits will sie, dass es aufhört, andererseits, fürchtet sie die Konsequenzen und sie stellt sich die Frage: Ist das eigentlich schlimm, immerhin tut der Chefredakteur des großen Fernsehsenders nichts verbotenes, oder? Das Problem, er kommt mit seinem Gefolge zu ihr nach Los Angeles und will sich treffen, also fragt sie nach Rat.
Der Erzähler ist klarer Meinung – NO GO! Eine neue Dynamik bekommt die Geschichte als immer mehr Personen sich über den Chefredakteur beschweren, gegen ihn aufbegehren und die Hauptfigur automatisch in diesen Strudel mitgerissen wird, wohlgemerkt auf Seiten der Anklägerinnen. Denn seinem besten Freund, der ebenfalls namenslose CEO des Fernsehsenders, also Chef des Chefredakteurs, versucht der Erzähler klarzumachen TU ENDLICH WAS gegen diesen Kerl, WIESO lässt du das alles geschehen. Es entsteht eine Geschichte die so vollkommen in ihrer Erzählung und Wirkung und dennoch so verworren ist, dass der Leser schnell Teil des Ganzen ist und es schwer fällt mit dem Lesen aufzuhören. Es wird im Verlauf der Handlung deutlich wo das Dilemma von #MeToo liegt und warum Machtmissbrauch so eine Bedrohung für die Menschheit ist.
Was macht das Buch besonders? Die Analogien, von denen Stuckrad-Barre berichtet, sind bekannt. Der Springer-Verlag. BILD. Julian Reichelt. Wer den Podcast “Boys-Club” auf Spotify gehört hat wird schnell merken: WOW hier schreibt jemand – der zehn Jahre im Konzern gearbeitet hat – unter dem Deckmantel der kalifornischen Sonne und des Berliner Winters von Machtmissbrauch bei Bild. Stuckrad-Barre selbst schreibt im Vorlauf “dieser Roman ist in Teilen inspiriert von verschiedenen realen Ereignissen, er ist jedoch eine hiervon losgelöste und unabhängige fiktionale Geschichte.”
Es ist ein Spiel mit Licht und Schatten, aber die Indizien sind deutlich und daher bezieht der Roman seine gesellschaftliche Relevanz. Die Realität macht die eh schon gute Handlung umso spannender, da dauernd der Gedanke mitschwingt, “das könnte alles passiert sein…” Der Springer-Verlag ist bei weitem nicht die einzige “Reallife-Korrespondenz”, das macht die Handlung noch nahbarer und persönlicher. Die Botschaft des Romans ist eindeutig und lesenswert, doch fehlt ihm etwas um mit Gewissheit als “MeToo-Roman” klassifiziert zu werden, dafür tauchen (fiktionale) Geschichten von betroffenen Frauen zu selten auf. Vielmehr widmet sich Stuckrad-Barre den toxischen Verwirrungen und Dynamiken von Männern, die großen Schaden anrichten. Er nutzt das Motiv “MeToo” eher als Plattform für die Erzählung anstatt es umfassend zum großen Thema seines Buchs zu machen.
Auch wenn ich zum ersten mal ein Buch von Stuckrad-Barre gelesen habe, die öffentliche Einschätzung “ein typischer Stuckrad-Barre” würde ich teilen. Das Buch ist literarisch brilliant geschrieben. Die Mischung aus Komödie und Ernsthaftigkeit, guter Beobachtung und politisch-moralischer Überzeichnung geben dem Buch die Kompromisslosigkeit, die es für das Thema braucht. Und doch steht am Ende die Frage: “Wann hört das alles auf?” Definitiv eine Lesereise wert!
Buch beendet am: 20.05.2023
Seiten: 384
Genre: Tatsachenroman